Was ist Privatsphäre? Gedanken zu einer hysterischen Diskussion

Lesezeit: 10 Min., von Titus Gast gepostet am Sat, 10.4.2010
Tags: datenschutz, facebook, google, journalismus, medien, öffentlichkeit, onlinejournalismus, privacy, privatsphäre, soziale netzwerke

Erst war es Google Street View. Dann Google Buzz. Zuletzt Facebooks neue Datenschutzbestimmungen. Wenn man sich die Reaktionen auf diese Dienste anschaut, könnte man meinen, wir alle wären diesen bösen Internetvampiren da draußen hilflos ausgeliefert, die nichts anderes wollen, als alle verfügbaren Informationen aus uns raussaugen und verkaufen. Ich fühle mich meistens unwohl in solchen Diskussionen – denn ich lerne dabei jedes Mal ein Internet kennen, das ich gar nicht kenne. Das Internet der bösen Datenkraken. Das Internet der dümmsten anzunehmenden User. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Es ist nur das Internet der Hilflosen.

Als ich meine ersten Schritte in einem öffentlichen Beruf unternahm, war ich froh, Radio zu machen. Und ich war ebenso froh, dies meistens weit entfernt von den Orten zu tun, an denen das Programm gesendet wurde, in dem ich mit Name und Stimme auftauchte. Mir war es unangenehm, wenn Leute – zum Beispiel in Geschäften, bei der Bank oder beim Arzt – meinen Namen mit meinem Beruf in Verbindung brachten. Natürlich kann man sich in dieser Mini-Prominenz auch sonnen. Geschmackssache.

Damals ging ich sogar so weit, zu behaupten, dass Fernsehen niemals interessant für mich sein könnte, weil die Vorstellung unangenehm war, nach einem anstrengenden Arbeitstag auf dem Heimweg womöglich in der U-Bahn erkannt und auf meinen Job angesprochen zu werden. Das hat sich etwas gebessert. Ich habe mittlerweile weniger Probleme damit, mich vor laufender Kamera zum Affen zu machen und habe sogar gelernt, dass andere gar nicht finden, dass ich mich zum Affen mache.

Nicht jeder macht diese Erfahrung. Im Gegenteil. Die meisten Menschen haben gelernt, dass sich für die meisten Dinge, die sie tun, fast niemand interessiert. Freunde, Familie, Kollegen, okay – aber eben nicht irgendein unbekannter Typ in der U-Bahn oder am anderen Ende der Welt. Nun sitzen sie vor diesem Internet, sind womöglich in irgendeinem dieser sogenannten „Sozialen Netzwerke“ aktiv (für die mir auch kein besserer Begriff einfällt) und wundern sich dann, wenn das, was sie tun, schreiben, fotografieren oder filmen, plötzlich von Menschen wahrgenommen wird, für die das gar nicht gedacht war. Sie wundern sich, dass andere Menschen oder auch Maschinen die Informationen, die sie über sich preisgegeben haben, auch benutzen – im schlimmsten Fall zu kommerziellen oder gar kriminellen Zwecken.

Nun kam mir ein Verdacht, warum diese Diskussionen so oft so sind, wie sie sind: Vielleicht liegt es daran, dass die meisten Menschen niemals in ihrem Leben lernen, mit Öffentlichkeit umzugehen? Das Grundproblem ist: Wir alle haben mit diesem Internet ein riesiges Publikationsinstrument bekommen. Einen gigantischen Medienkanal, bei dem die Informationen auch noch in beide Richtungen fließen. Jeder von uns hat damit ein großartiges Paket aus eigenem (Fernseh- und Radio-)Sender und Zeitung bekommen. Aber die wenigsten von uns haben gelernt, wie man mit so was umgeht. Ich sage es mal so: Jedem ist klar, dass ein Fernsehsender eine ziemlich öffentliche Sache ist und nur sehr bedingt (und mit größerem technischem Aufwand) zur Kommunikation mit Freunden und Familie taugt.

Als es nur Telefonbücher gab, hatten die meisten von uns kein Problem damit, ihre Telefonnummer öffentlich zu machen. Denn an diese Informationen zu kommen, war so aufwändig (man musste ein großes Postamt aufsuchen und dort das richtige finden, dann erst mal nach dem Namen suchen, man musste den genauen Wohnort und eventuell sogar den Nachnamen des Partners kennen), dass Missbrauch für die meisten nicht vorstellbar war. Als dann die ersten Unternehmen begannen, Telefonbuch-CD-ROMs in großem Stil auszuwerten, bekamen die ersten eine Vorstellung davon, dass es vielleicht einfach nervt, wenn die eigene Telefonnummer öffentlich ist. Als dann mehrere Konkurrenten einfach diese Daten übernahmen und Personensuchmaschinen wie Yasni oder 123people sie auch noch auf die erste Seite der Ergebnislisten der Suchmaschinen spülten, begannen viele ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass Daten wie diese vielleicht nicht ganz so öffentlich sein sollten. Eine Information, die sich im Zeitalter des guten alten Telefonbuchs noch gut kontrollieren ließ, entgleitet einem nun komplett. Im Zeitalter der Telefonbücher konnte ich jederzeit kontrollieren, ob mein Name mit Nummer dort auftauchte oder nicht, und ich konnte sicher sein, dass er nur dort auftauchte. Heute kann ich das nicht mehr. Stehe ich im Telekom-Telefonbuch, findet man mich nicht nur über telefonbuch.de, sondern auch in diversen Konkurrenzprodukten, außerdem über die besagten Personensuchmaschinen… der einzige Ausweg ist, sich aus dem Telefonbuch löschen zu lassen. Übrigens ein guter Tipp.

Hinzu kommt: Privatsphäre ist höchst individuell. Ich zum Beispiel finde, dass meine Kontoauszüge meine Privatsache sind und noch nicht mal meine engsten Familienangehörigen was angehen, und damit meine ich nicht etwa Bankleitzahl und Kontonummer. Ich finde zum Beispiel, dass meine Telefonnummer nicht in die Öffentlichkeit gehört, sondern nur die Menschen etwas angeht, die mich dringend erreichen müssen oder mit denen ich gerne telefoniere. Da ich grundsätzlich selten und meistens ungern telefoniere, gehe ich damit eher sparsam um. Ich finde auch, dass es nicht jeden etwas angeht, wann ich zuhause bin und wo exakt ich wohne. Das zum Beispiel hätte ich aber vor 20 Jahren sicher ganz anders gesehen, weil mich damals unerwartete Besucher mehr gefreut haben als heute.

Die Wertvorstellungen darüber, was privat ist und was öffentlich, ändern sich. Oft bei einem selbst im Laufe eines Lebens, ganz sicher in einer Gesellschaft im Laufe der Zeit, und sie sind auch von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Sehr anschaulich schildert das beispielsweise Jeff Jarvis: Für ihn als US-Amerikaner ist Nacktheit eine ziemlich private Angelegenheit und er fand es am Anfang wie viele seiner Landsleute sehr befremdlich, dass es in Deutschland gemischte Saunen gibt. Zu allem Überfluss sehen das noch nicht mal alle in Deutschland ähnlich – es gibt Deutsche, die haben mit der Nacktheit sogar in der eigenen Familie ganz grundsätzliche Probleme, und andere, die nur FKK-Urlaub machen.

Wer bei uns über die Autobahn fährt, erfährt eine ganze Menge über viele Menschen. Zum Beispiel, wann sie geboren sind und wo sie wohnen (auf dem Nummernschild), welchen Fußballverein sie toll finden, vor allem aber: Wie viele Kinder und Haustiere sie haben, wie diese heißen und welches Geschlecht sie haben. Vermutlich sehen auf nur einer Fahrt in den Urlaub mehr Menschen mein Auto und alle damit verbundenen Informationen als in einem Jahr auf meinem Facebook-Profil vorbeischauen. Seltsamerweise stört das aber viele überhaupt kein bisschen. So ist das mit der Individualität: Ich schäme mich fremd für die Namen der Kinder von anderen, die finden das aber toll.

Das Beispiel zeigt aber auch wieder, worum es eigentlich geht: Es geht gar nicht darum, ob Unternehmen bestimmte Daten erheben dürfen/können/sollen, sondern es geht darum, dass ich als Kunde bestimme, wem ich was über mich mitteile und mir auch darüber im Klaren bin, was jemand mit dieser Information anfangen könnte. Es gibt eine Grenze zwischen „öffentlich“ und „privat“, die bei jedem anders verläuft. Sich darüber zu mokieren, wenn andere diese Grenzen anders ziehen, ist ziemlich daneben und hilft nicht weiter. Wichtig ist, dass jeder selbst sein eigener Grenzschutzbeamter ist und auch sein darf.

Mindestens ebenso wichtig ist, dass wir uns alle bewusst werden: Wenn wir uns im Netz bewegen, bewegen wir uns in der Öffentlichkeit. Punkt. Wir müssen lernen, damit umzugehen, dass es ein öffentliches Ich gibt, geben darf und in Zukunft für viele auch geben muss. Das besteht in erster Linie aus dem, was ich über mich veröffentliche, manchmal machen dabei noch ein paar andere mit.

Ich persönlich kann dem auch nichts abgewinnen, wenn Leute der gesamten Öffentlichkeit mitteilen, dass sie gerade essen, schlafen, einkaufen, putzen, saufen oder kotzen. Aber: Auch das ist ein öffentliches Statement über die eigene Person. Das müssen wir respektieren und niemandem steht es zu, das zu verurteilen. Unter einer Voraussetzung: Dass der Produzent dieser Banalitäten sich darüber im Klaren ist, was er tut. Wenn jemand Banalitäten über sich publiziert, muss er wissen, dass er dann auch von vielen als banale Persönlichkeit wahrgenommen wird. Wenn das klar ist, sollte es kein Problem sein. Ich muss ja nicht hinschauen.

Umgekehrt wird’s interessant. Jeder, der sich darüber im Klaren ist, dass er es hier mit eine Publikationsform in eigener Sache zu tun hat, wird versuchen, intelligente Dinge über sich selbst zu publizieren, die dem Image, das man gerne hätte, dienen. Insofern können auch die eigenen Saufbilder oder die Fotos der eigenen Kinder sinnvoll sein – wenn es denn darum geht, dieses Image hervorzukehren, also das Partytier oder den Familienmenschen nach außen zu kehren.

Jeder veröffentlicht über sich Dinge, die anderen zu privat wären. Ich zum Beispiel finde dieses ganze Geodaten-Zeugs spannend, und habe wenig Probleme damit, meinen Freunden und meiner Familie via Internet mitzuteilen, dass ich gerade auf der Autobahn, im Zug, beim Einkaufen, im Büro oder sonstwie unterwegs bin. Es geht mir dabei darum, schnell und unkompliziert zu kommunizieren, wo ich mich gerade befinde. Die Vorstellung, dass mein Handy automatisch ohne mein Zutun den Menschen, denen ich das erlaube – und nur denen! – mitteilen würde, wo ich gerade bin, bereitete mir am Anfang Unbehagen, mittlerweile fände ich solche Funktionen praktisch. Meine Familie wüsste immer, wann ich ungefähr heimkomme, meine Kollegen wüssten, wann ich etwa im Büro eintreffen würde, usw. Das einzige Problem: Ich möchte dabei sehr genau festlegen, wer Zugriff auf diese Informationen hat. Deswegen hat mich noch keiner der entsprechenden Dienste überzeugt.

Bei aller Öffentlichkeit gibt es nur eine wirklich objektive Grenze, die viele nicht kennen und auch nicht respektieren: die Rechte anderer. Für mich ist beispielsweise ein wichtiger Grund, keine Fotos von eigenen oder fremden Kindern zu veröffentlichen, dass ich die Betroffenen nicht fragen kann (bzw. zwar fragen könnte, sie die Tragweite ihrer Entscheidung aber nicht beurteilen könnten). Aus demselben Grund finde ich auch diese Autoaufkleber mit den Namen des Nachwuchses ziemlich daneben. Andererseits kann ich meine Frau zum Beispiel fragen, ob sie’s okay findet, wenn ich dieses oder jenes Foto von uns oder die Information, dass wir verheiratet sind, bei Facebook veröffentliche, aber nur für meine Freunde. Aufs Auto würde ich mir das trotzdem nicht pappen, genausowenig wie hier im Blog fett in die Sidebar schreiben, denn beides sind vollkommen öffentliche Orte, wo ich den Zugriff auf diese Information nicht einschränken kann.

Wenn es um Datenschutz geht, werden wir gerne hysterisch. Ich weiß nicht, ob das nur in Deutschland so ist, und das hat sicher auch gute Gründe. Aber ich finde es vor allem absurd, wie viel Unverständnis Menschen begegnet, die mit manchen Informationen etwas lockerer umgehen als andere. Wohlgemerkt: Wir reden nur über Informationen, die wir freiwillig teilen.

Im „richtigen“ Leben fänden es die meisten von uns völlig absurd, gleich nach Politikern und anderen Gesetzen zu rufen, wenn sie über den Markusplatz in Venedig gehen und dort zufällig auf mindestens 1.000 Fotos landen. Sie fänden es absurd, sich über Menschen zu mokieren, die kein Problem damit haben, anderen zu erzählen, wie viel sie verdienen. Sie fänden es absurd, in einem Gewinnspiel-Formular Fragen nach dem Familienstand oder dem Alter nicht zu beantworten. Sie fänden es absurd, gemischte Saunen zu verbieten, oder Autoaufkleber mit den Namen der Kinder. Sie fänden es komisch, wenn ein Urlauber, der ein Foto von meinem Haus machen möchte, erst bei mir klingeln, fragen und womöglich eine schriftliche Einverständniserklärung einholen müsste. Wenn es um Internetdinge geht, ist das alles auf einmal gar nicht mehr so absurd.

Der Grund dafür ist Unsicherheit. Den Umgang mit der Öffentlichkeit und die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Informationen kann man erlernen. Man kann lernen, die meisten seiner eigenen Daten zu schützen, die man für schützenswert hält. Das Problem ist: Die wenigsten haben das gelernt.

Versucht man also, sich von all den hysterischen Zwischentönen zu befreien, die solche Diskussion meistens überlagern, dann bleibt eigentlich nur eins: Es geht im Kontrolle. Es geht darum, dass ich – der User – in jeder Situation entscheiden kann, mit wem ich welche Information teile. Das ist alles. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.


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