Wäre ich Kim F. aus Gummersbach, ich wäre spätestens jetzt stinksauer auf meinen Vater. Dabei hat der arme Mann nichts weiter getan, als seine Freunde in sozialen Netzwerken um Hilfe bei der Suche nach seiner Tochter zu bitten. Doch dann wurde eine Riesenwelle daraus, in deren Folge die Polizei von der Arbeit abgehalten wurde und der besorgte Vater sein Facebook-Profil dicht machen musste. Wo ist nun das Problem?
Mein Arbeitstag hat mich heute ordentlich ins Grübeln gebracht. Genau genommen ging es schon gestern abend los. Freunde posteten da diese Vermisstenmeldung bei Facebook. Ein Mann bat um Hilfe bei der Suche seiner Tochter, Tausendfach weitergeleitet von Freunden, Freunden von Freunden, Freunden von Freunden von Freunden, Freunden von Freunden von Freunden von Freunden…
Ich war skeptisch. Roch ja nach Hoax, die Geschichte – nach einem schlechten Scherz, nach einem Fake, hinter dem was ganz anderes steckt, und auf jeden Fall nach nichts, dem man als halbwegs aufgeklärter Internetuser Beachtung schenken sollte. Dachte ich. Dann wurde der Fall von Kim F. zum Medienthema, Kollegen fragten besorgt, wie man das Thema angehen könnte. Mein erster Gedanke: „Entschuldigung, ihr wollt doch nicht ernsthaft über einen Hoax berichten – oder besser gesagt die moderne Statusmeldungsvariante des guten alten Kettenbriefs?”
Dann kamen diese Fragen: Woran erkennst du denn eigentlich, dass das eine Falschmeldung ist? Könnte es denn nicht sein, dass der Mann wirklich nach seiner Tochter sucht? Muss man dem dann nicht helfen? Wie kannst du dir so sicher sein, dass das Blödsinn ist?
Auch ich stelle mir diese Fragen, wenn ich so eine Statusmeldung sehe (meine Freunde schicken mir ja keine Ketten-Mails mehr, seit ich einige davon mit dem Hinweis auf die Hoax-Problematik beantwortet habe). Wenn mich die Fragen sehr quälen, recherchiere ich. In diesem Fall bedeutete das: Ich klickte das Profil des Vaters an und versuchte, etwas über ihn herauszufinden (alle Infos unsichtbar für mich, sogar der Wohnort), ich fragte Menschen, die die Vermisstenmeldung weitergeleitet hatten, ob sie ihn persönlich kennen („Nein, eine Freundin hat das gepostet, die kennt ihn offenbar”) und gab den Namen der vermissten jungen Dame in die Suchmaschine meines Vertrauens ein: Nur Treffer, die die Vermisstenmeldung weiterleiteten, kein einziger Treffer der Polizei oder einer Zeitung mit einem Fahndungsaufruf oder Ähnlichem. Seltsam. Später änderte sich das, da war die Polizei-Pressemitteilung („Bitte nicht mehr anrufen!“) schon weiter oben.
Hätte der Vater z.B. nur seinen Wohnort veröffentlicht, wäre es einfach gewesen, den Wahrheitsgehalt der Meldung schnell mal mit einem Anruf bei der Polizei zu überprüfen. Hätte er einen Link zu einer Webseite der Polizei gepostet, wäre ebenfalls klar gewesen, dass es sich um einen echten Fall handelte. So aber blieb bei mir der Eindruck: Da will jemand ganz bewusst was verheimlichen, sagt nicht die ganze Wahrheit, hat vielleicht ganz andere Motive, was auch immer – typischer Hoax eben. Eben.
Das Problem ist: Zu dieser Einschätzung konnte ich nur gelangen, weil ich Misstrauen gelernt habe. Ich habe gelernt, im Internet zu recherchieren und die dort gefundenen Informationen zu bewerten. Das ist Teil meines Jobs. Einfach mal googeln – manchmal ist es wirklich so einfach. Außerdem bin ich als langjähriger E-Mail-User halbwegs sensibilisiert für Kettenmails und deren moderne Pendants, werde einfach hellhörig (und skeptisch), wenn mich jemand auffordert, etwas ganz dringend an viele Menschen weiterzuleiten.
Vielen ganz normalen Internet-Usern fehlen diese Fähigkeiten. Das muss sich ungefähr so anfühlen, als wäre jemand nicht in der Lage, beim Fernsehen zwischen Nachrichten und Spielfilm zu unterscheiden oder bei der Zeitung zwischen Artikeln und Anzeigen. Alles, was da steht, muss ja wohl irgendwie relevant sein, sonst stünde es da ja nicht.
Speziell in diesem Fall kommt noch ein Problem hinzu: Soziale Netzwerke funktionieren ähnlich wie die gute alte Kettenmail nach dem Schneeball-Prinzip. Informationen werden auf genau diese Art weiterverbreitet. Nur: Wie unterscheide ich jetzt da gute, also weiterverbreitenswerte Informationen von den schlechten, die man nicht so sehr weiterleiten sollte? Im Grunde läuft es immer auf das eine Kriterium hinaus: Wenn da sinngemäß steht „Bitte leite diese Nachricht an möglichst viele Menschen weiter…”, dann ist das eigentlich immer ein sicheres Indiz dafür, dass man genau das nicht tun sollte.
Nun – da auch das Mädchen wieder aufgetaucht ist – bin ich gespannt, in wie vielen Jahren die Kettenmail mit Kims Foto mal wieder in meiner Mailbox vorbeischaut. Sie ist wahrscheinlich auch dann immer noch stinksauer auf ihren Vater, der einfach mal das Bild und den vollen Namen seiner minderjährigen Tochter in die halbe Welt rausgepustet hat.