Journalismus ist Handwerk, heißt es immer. Tatsächlich ist das meiste, was heute entsteht, aber industrielle Inhalteproduktion. Ich halte das im Onlinejournalismus für ein großes Problem. Tayloristische Arbeitsteilung wie in der Autoindustrie funktioniert da nicht.
Wenn ich mir die Arbeitsabläufe in größeren, modernen Medienunternehmen so anschaue, habe ich immer den Eindruck, ich sehe Charlie Chaplin in „Moderne Zeiten“: Vorne legt jemand was aufs Fließband – zum Beispiel ein Reporter einen Text – hinten kommt dann nach unzähligen und je nach Medium unterschiedlichen Arbeitsschritten an anderen Teilen des Fließbandes, die von anderen Menschen ausgeführt werden, irgendwas raus. Mit viel Glück weiß der Reporter, was es ist. Oft weiß er es nicht so genau oder will es gar nicht wissen.
Industrielle Medienproduktion am Fließband
Was Charlie Chaplin in seiner Satire beschreibt, ist eine falsch verstandene, aber dennoch häufig praktizierte Form des Taylorismus – der Fachbegriff lautet „Scientific Management“. Selbst in der produzierenden Industrie wird schon lange nicht mehr so gearbeitet. Da gibt es teilautonome Arbeitsgruppen und viele andere Neuerungen, die dafür sorgen, dass Mitarbeiter sich mit ihrer Arbeit identifizieren. Selbst agile Entwicklungsmethoden wie das in der Softwareentwicklung so beliebte Scrum stammen ja eigentlich aus der Automobilindustrie. Und die Medienindustrie? Sie produziert weiter munter am Fließband.
Stephan Goldmann hat diese industriellen, fließbandartigen Abläufe am Beispiel einer Print-Redaktion sehr schön beschrieben. Man sieht an seinen Grafiken auch sehr schön, dass ein Allrounder auch kein professioneller Grafiker ist, aber das zeigt mir: Alles an diesem Artikel ist selbst und mit Liebe gemacht. Ich bin mir aus Gründen sogar sicher, dass er seine Tweets selbst beantwortet.
Journalistisches Handwerk ist Fließbandarbeit
Wir Journalisten sehen uns ja gerne als Handwerker. Journalisten beherrschen ihr Handwerk (oder eben nicht), sie werden in Redaktionen ausgebildet, um ihr Handwerk zu lernen. So steht es in unzähligen Lehrbüchern, so erzählen jungen Journalisten das die älteren Kollegen. Und überhaupt, früher haben die ja alle noch ihr Handwerk beherrscht.
Der Punkt ist: Das, was die meisten von uns praktizieren, ist kein Handwerk. Das ist industrielle Massenmedienproduktion, um besten Falle ist es ganzheitliche industrielle Multimediaproduktion. Ein Rädchen greift ins andere, jeder Experte macht seinen Arbeitsgang, und keiner (oder nur jemand, der genau dafür zuständig ist) hat am Ende Ahnung, was dabei herauskommt.
Das soll jetzt kein Plädoyer für fröhliches Dilettieren sein: Natürlich wird eine Grafik besser, wenn sie der Designer macht, natürlich schneiden Cutter meistens besser als Journalisten und natürlich ist nicht jeder Reporter ein begnadeter Schlagzeilentexter. Aber: Das ist Teamarbeit im besten Fall, im schlechteren ist es Arbeitsteilung, die schlimmstenfalls dazu führt, dass keiner die Verantwortung für das Gesamtprodukt hat. Das ist kein Handwerk (doch ich weiß, auch bei Handwerkern kommt so was vor; ich bin aber nicht der Meinung, dass das so sein sollte).
Journalismus schafft keine fertigen Produkte (mehr)
An einem Fließband gibt der eine dem nächsten einen bestimmten Teil eines Produktes in die Hand und am Ende schraubt irgendjemand alles zusammen. In einem Team arbeiten mehrere Menschen mit unterschiedlichen Skills an einem gemeinsamen Produkt.
Aber wir liefern keine fertigen Produkte (mehr) ab. Der Radiobeitrag landet bei iTunes und Spotify als Podcast, wird vielleicht sogar via Soundcloud geteilt und kommentiert. Der Fernsehbericht landet bei YouTube, wird kommentiert, verbreitet geteilt, es kommen neue Hinweise dazu … Dito bei Texten.
Und der Journalist? Bekommt bei industrieller Massenmedienproduktion nur was davon mit, wenn ihn der Community Manager, Social-Media-Redakteur oder wer auch immer mal fragt, ob er zu dieser Frage vielleicht ein paar Links hat oder jenem Hinweis mal nachgehen möchte. Und das ist selten genug.
Onlinejournalismus hört nie auf
Handwerk ist hingegen Teamarbeit. Da hat einer vielleicht besondere Stärken wie Videoproduktion, ein anderer kann tolle Texte schreiben, wieder ein anderer hat eine schöne Stimme, und noch einer kann mit Bildern zaubern … In so einem Team weiß aber jeder, wo seine Grenzen sind und wann er die anderen fragt. Er drückt nicht einfach jemandem ein Teilstück eines Produktes in die Hand und sagt: Mach mal. Und am Ende kommt was dabei raus, man gibt ab und es ist vorbei. Selbstverständlich kümmert man sich drum, was mit dem Produkt passiert, wenn es publiziert, also „geboren“ (Goldmann) wird. Wenn es anschließend kommentiert, geteilt, verbreitet wird, dann sollte man daran teilnehmen, das gemeinsame Produkt verbessern und immer weiter daran arbeiten, solange es „lebt“ – und gemeinsam dafür sorgen, dass das möglichst lange der Fall ist.
Nach der Publikation beginnt die Arbeit
Die eigentliche Arbeit beginnt also erst nach der Publikation – mit Kommentaren, Verbreitung, Hinweisen, Ergänzungen, Weiterdrehs, anschließenden Recherchen, neuen Geschichten, die wiederum alles von vorne beginnen lassen … Ein neuer „Content-Zyklus“ beginnt.
All das sollte natürlich (auch) beim Autor liegen. Und auf keinen Fall ist es sinnvoll, dass sich dieser gar nicht darum kümmert, weil er ja schon abgegeben hat.
Inhalte-Manufaktur statt Content-Fabrik
Um wieder auf die Industrialisierung zurückzukommen: Vor dem Industriezeitalter wurden Produkte von Handwerkern hergestellt, manchmal in Manufakturen. Mir gefällt die romantische Vorstellung, dass Journalisten in Inhalte-Manufakturen arbeiten, wo sie mit Liebe zum Detail wertvolle Produkte herstellen, ein ganzes Produktleben lang daran weiterarbeiten, sie verbessern und so letztendlich immer wertvoller machen.
Foto: Charlie Chaplin in „Modern Times“ (Quelle: Wikimedia Commons; gemeinfrei)