Ja, ich bin Twitter-Tussi. Na und?

Lesezeit: 4 Min., von Titus Gast gepostet am Fri, 9.11.2012
Tags: fernsehen, internet, medien, multimedia, onlinejournalismus, radio, twitter

Wäre ich eine Frau, hätte ich es möglicherweise nicht so lustig gefunden, einfach nur meine Arbeit zu machen und dafür von einem Online-Medienmagazin als „Twitter-Tussi“ tituliert zu werden. Als männliche Twitter-Tussi fand ich es einigermaßen komisch. Denn wenn wir alle einfach mal einen Schritt zurücktreten und mit etwas Abstand auf uns gucken, ist das doch Realsatire, was wir da treiben: Tweets in anderen Medien vorzulesen. Oder?

Zunächst mal: Natürlich kann man über den Meedia-Artikel streiten. Wahrscheinlich ist er auch nicht besonders geglückt als Satire – vor allem ist es wahrscheinlich sogar ziemlich unnötig, Kolleginnen namentlich zu nennen. Viel lustiger wäre es wahrscheinlich gewesen, eine anonyme Klischee-Twittertussi zu beschreiben. Ob ich den Artikel sexistisch finden soll, wie es viele kritisieren? Keine Ahnung. Vermutlich müsste ich dazu eine Frau sein. Tatsache ist – und das wird auch in dieser Satire deutlich: Es ist im Fernsehen (und ich möchte persönlich ergänzen: im Radio) gerade mega-angesagt, aus dem Internet vorzulesen. Wenn man das lustig findet, kann man sich auch darüber lustig machen. Man kann auch ein paar Interviews zu diesem Phänomen machen. Ist auch lustig, aber auch irgendwie ernsthaft. Vielleicht besser.

Nun bin ich ja selbst einer dieser Internet-Vorleser im Radio. Ich habe HTML, ein wenig PHP und JavaScript, Bildbearbeitung, Videoschnitt und verschiedene andere Techniken gelernt, die man zum Publizieren im Web so braucht. Ich beschäftige mich mit Usability und Webdesign-Trends, weiß, wie man Dinge in so ziemlich alle mittelerfolgreichen sozialen Netzwerke bringt und wie man gucken kann, was mit diesen Dingen passiert, kann einigermaßen mit Tabellenkalkulation und habe gelernt, Page Impressions von Visits und Unique Visitors zu unterscheiden. Mit alledem stelle ich normalerweise mehr oder weniger komplizierte Dinge auf Webseiten an.

Und dann fand ich mich vorgestern in einem recht erfolgreichen Radioprogramm wieder und… las aus dem Internet vor, was andere Menschen über den Wahlausgang in den USA da rein geschrieben haben. Meine Qualifikation dafür war nur am Rande die Tatsache, dass ich a) lesen kann (Abitur!) und b) halbwegs professionell vorlesen kann (Radioerfahrung). Wichtiger ist bei solchen Entscheidungen, dass ich halt dieses Internet bei meinem Sender mache und mich ergo in diesem Netz auskenne. Siehe oben. (Am Rande sei bemerkt, dass @indiesemnetz übrigens ein sensationeller  Twitter-Username ist. Leider schon belegt.)

Wenn man als Onlineredakteur in klassischen Medien plötzlich den Job bekommt, das Internet zu erklären (weil man sich darin ja auskennt), dann mutet das erst mal seltsam an. Vor allem, wenn andere Kollegen für die spezifischen Themen mindestens ebenso kompetent wären: Dass ich Webseiten bauen und konzipieren kann, heißt ja nicht unbedingt, dass ich mich super bei Facebook auskenne, alle YouTube-Videos gesehen habe und der weltbeste Twitterer bin.

Davon abgesehen ist es für jemanden, der sich tagtäglich im Internet bewegt, in der Tat fragwürdig, aus dem Internet vorzulesen. Im schlimmsten (oder besten, je nach Standpunkt) Fall lesen wir den Zuschauern oder Hörern Dinge vor, die sie selber ja auch jederzeit lesen können oder vielleicht schon gelesen haben. Der „Netzreporter“ ist eigentlich ein fürchterlicher Anachronismus. Es gibt schließlich keine Zeitungsvorleser in Radio und Fernsehen, es fragt ja keiner: „Was tut sich denn in der Straßenbahn/am Telefon/zuhause bei den Hörern oder Zuschauern/wo auch immer sonst Menschen kommunizieren?“

Aus dem Internet zu berichten – in eigenen Rubriken und/oder mit eigenen Personen, deren Gesichter bzw. Stimmen die personifizierte Netzkompetenz sein sollen sind, zeugt in erster Linie davon: Das Internet ist in den klassischen Medien kein selbstverständlicher Kommunikationsraum. Es ist eine eigene Welt, eine „virtuelle“ wohl gar, etwas, das vom „richtigen Leben“ irgendwie getrennt ist.

Die wenigsten von uns Twittertussis werden das so empfinden. Die wenigsten jüngeren Zuschauer/Hörer/Leser werden das so empfinden. Aber all den anderen sollten wir eben erklären, dass es anders ist. Nicht nur in unseren Redaktionen, sondern eben auch in unserer Kundschaft vor den Geräten oder am Papier. Ich glaube, so gesehen haben wir Twittertussis eine wichtige Bildungsaufgabe – und eine tolle Chance. Weil unser Ziel aber eigentlich unsere eigene Abschaffung sein muss, sollten wir uns einfach einstweilen ein bisschen darüber lustig machen: Ja, ich bin Twittertussi. Na und?

Update, 11.11.2012: Der geschätzte Kollege Dennis Horn hat dazu auch sehr Lesenswertes gebloggt. Zitat:

„Ich träume von einer idealen Fernsehsendung. Einer ohne Internet-Vorleser. Mit einer Redaktion, die online ist. Und mit Moderatoren, die sagen, was Sache ist – egal, ob sie davon per Brieftaube, Telefon, Zeitung, E-Mail oder Twitter erfahren haben. Vielleicht können die Internet-Vorleser dazu beitragen: indem sie sich selbst abschaffen.“

(Danke,  Tobias Weckenbrock!)


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