Eine App, ein Urteil und ganz viel Mutlosigkeit

Lesezeit: 4 Min., von Titus Gast gepostet am Sun, 30.9.2012
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Es war mal wieder ein denkwürdiges Schauspiel in den letzten Tagen: Das Landgericht Köln fällte sein lange und mit Spannung erwartetes Urteil zur tagesschau-App – und alle waren genau so schlau wie zuvor.  Nur traut sich das keiner zu sagen, anstattdessen glänzen die versammelten „Qualitätsmedien“ munter mit sehr eigenwilligen Interpretationen des Urteils. Ich persönlich habe auf den Webseiten großer Verlage keinen Artikel dazu gelesen, der nicht ganz klar die Interessen des jeweiligen Verlags vertrat. Das ist nicht nur nach journalistischen Kriterien traurig, sondern es bedeutet: Die meisten Beteiligten haben in mehreren Jahren exakt nichts gelernt. Das ist skandalös.

Man muss kein großer Freund des dualen Rundfunksystems und öffentlich-rechtlicher Internetangebote sein, um zu verstehen, dass eine Klage gegen eine App (die im Grunde lediglich einen optimierten Zugang zu einer Website bietet) nicht gerade innovationsförderlich ist. Wer versucht, die Konkurrenz vom Markt zu klagen, anstatt ihr einfach ein besseres Produkt entgegenzusetzen, ist normalerweise zu bemitleiden – insofern muss man fast froh sein, dass es die tagesschau-App weiterhin gibt und geben darf (was übrigens nicht überall zu lesen ist). Konkurrenz, die dieses Geschäft belebt, ist gar bitter nötig, wie z.B.

Christian Jakubetz in seinem Blog eindrucksvoll an ein paar sehr einfachen Beispielen aus dem Alltag eines Tablet-Users (der noch dazu nicht gerade mit dem iPad unterwegs ist) unter Beweis stellt.

In einem anderen Artikel auf einem anderen Blog brachte es derselbe Autor auf die einfache Formel: „Es gibt keine Presse mehr“:

„Wer im Netz ist, wer dort publiziert, tut dies multimedial: Text, Bild, Video, Audio, Interaktion. Es ist also wenigstens absurd, einem Publizisten im Netz nur bestimmte Formen des Publizierens gestatten zu wollen.“

Das ist das Grundproblem – bzw. dass immer noch einige eben dies nicht verstanden haben und munter Vokabeln wie „presseähnlich“ verwenden, wann immer mit geschriebenem Wort irgendwie Journalismus gemacht wird.

Es kam mir in den letzten Tagen wieder vermehrt eine Frage in den Sinn, die mich schon vor mehreren Jahren (!) bei der Diskussion um den 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag (Stichwort: Sieben-Tage-Fristen und Zwang zur Depublikation) und der begleitenden Berichterstattung Propaganda mancher „Qualitätsmedien“ umtrieb: Kann es wirklich sein, dass große Verlagshäuser wie F.A.Z., der gesamte Springer-Konzern und ein paar weitere nicht gerade kleine Zeitungsverlage sich von einer einzigen ARD-Nachrichtenwebsite bedroht fühlen?

Und wenn das so ist: Wie unterirdisch unterentwickelt muss das Vertrauen in die Qualität der eigenen journalistischen Online-Produkte eigentlich sein, wenn man ausgerechnet in ein paar abgetippten und aufgepeppten Radiobeiträgen die größte Konkurrenz ausmacht? Wie ideenlos muss man sein, wenn einem über Jahre nichts, aber auch gar nichts besseres einfällt als diese Konkurrenz irgendwie wegzuklagen oder Suchmaschinen zur Kasse zu bitten?

Wenn man das zu Ende denkt, könnte man sogar fast auf die Idee kommen, die ARD wäre internettechnisch wahnsinnig innovativ und schnell. Ich arbeite bei einer ARD-Anstalt. Innovation und Schnelligkeit kommen da durchaus vor (und zumindest in den Online-Redaktionen auch häufiger, als man vermuten würde). Dennoch sind das aus ganz verschiedenen Gründen nicht die ersten Vokabeln, die mir im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Online-Aktivitäten einfallen. Offensichtlich reicht es schon, nicht gerade im Tiefschlaf zu versinken, um für weite Teile der deutschen Verlagslandschaft eine Bedrohung zu sein.

Wirklich erschreckend aber ist: Es hat sich seit der Diskussion um den 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wenig bis nichts getan. Hier und da ein paar zweifellos wegweisende Tablet-Experimente, die aber meistens recht hilflos auf eine Plattform fixiert sind, das war’s – abgesehen vielleicht von wenigen Ausnahmen, die man an weniger als einer Hand abzählen kann. Stattdessen werden weiterhin massenhaft ewig austauschbare Agentur-oder PR-Meldungen über deutschen Lesern abgeworfen, die man sich notfalls so zurechtoptimiert, dass via Google News ein paar Leser drauf klicken. Bloß nix eigenes entwickeln, bloß keine Innovation. Wer sich bewegt, verliert. Könnte ja Geld kosten. Oder man könnte gar was dabei lernen.

Nun wäre all das nur natürlich, wenn es sich um eine x-beliebige Branche handelte. Allerdings reden wir hier von Journalismus. Ich dachte mal, eine unbedingte Voraussetzung, um den Beruf des Journalisten auszuüben, wäre Neugier. Vielleicht sogar Offenheit und Lust auf Neues. Möglicherweise war das ein Irrtum. Das wäre absurd und traurig.

Aufwachen, Leute. Wir befinden uns im Jahr 2012. Danach kommt 2013. Nicht 1913.