Eigentlich sollte das Internet so was wie ein riesiges Archiv sein. Vielleicht ist diese Vorstellung ein bisschen naiv. Denn manche Dinge verschwinden einfach aus dem Netz. Dumm ist, wenn es sich dabei um eigene Artikel handelt, die einem irgendwie wichtig waren. Zum Beispiel Geschichten, von denen ich einfach denke, dass sie weiterhin erzählt werden sollte. Ich hatte zum Beispiel vor über einem Jahr das Glück, so eine Art widerspenstiges gallisches Dorf auf einer kleinen Insel der Glückseligen in einem Meer aus Massentourismus kennenzulernen. Ich hatte den Menschen dort versprochen, anderen von ihrer Idee für eine andere Art von Tourismus an der oberen Adriaküste zu erzählen. Das Internetportal, wo ich das ursprünglich getan habe, ist inzwischen verschwunden. Deshalb sind hier der Text und die Bilder von damals.
Caorle, Italien, Juli 2007 – Stärker könnte der Kontrast nicht sein: Eben waren wir noch am quirligen Strand von Caorle. Obere Adriaküste, Venetien, typisch Teutonengrill. Und nun das: Eine Straße endet im Nichts, ich steige zusammen mit den anderen aus unserer Journalistengruppe mitten im hohen Schilf aus dem Bus, und dann sind da diese Boote aus schwarz lackierten Planken mit bunter, farbenfroher, fast frivoler Bemalung. „Bragozzo“ heißt dieses traditionelle Boot der Lagunenfischer von Caorle.
Das Boot tuckert durch den Canale Saetta Richtung Meer. Die Kanäle, die durch mindestens mannshohe Schilfgürtel und Uferwälder führen, sind buchstäblich Wasserstraßen: Das zeigen schon alleine die Schilder, die ab und zu mitten im Wasser auftauchen, wenn sich nach links oder rechts ein weiterer Kanal öffnet, der noch tiefer in die Lagune führt. Links geht’s nach Caorle zurück, rechts nach Bibione.
Die Kanäle in der weit verzweigten Lagunenlandschaft waren einmal Lebensadern für alle Menschen, die hier wohnten. Heute sind sie es immer noch – für die Fischer und unzählige Tierarten. Es geht nun vorbei an kleinen Häuschen, die plötzlich aus dem Schilf auftauchen, mit riesigen Kaminen, und immer wieder finden sich Schleusen für die Bewässerungsanlagen.
In der Lagune mischt sich das Süßwasser der Flüsse aus dem Hinterland mit dem Salzwasser aus dem Meer. Dadurch leben in diesen riesigen Feuchtgebieten und seinen Brackwassern auch besondere Tiere, und zwar sowohl unter der Wasseroberfläche als auch auf dem Wasser und den Inseln. Immer wieder ziehen auf der Fahrt Schwanfamilien mit ihren kleinen, braunen Jungen und andere Wasservögel vorbei. 150 Vogelarten leben hier, darunter auch Enten- und Gänsearten, die es sonst nirgends gibt, sowie verschiedene Fasane. Und nicht zu vergessen die wilden Ziegen, die sich auf Valle Vecchia in einer kleinen Gruppe halten konnten; „caprulae“ nannten sie die Römer – später wurde daraus der Ortsname Caorle.
Lagunenfischer stellt man sich ungefähr so vor: klein, schmächtig, bärtig, verbrannte Haut, tief zerfurchtes Gesicht, graue Haare, verwitterte Mütze, wortkarg und misstrauisch gegenüber Touristen. Dionisio ist anders: Er wirkt jugendlich, ist kräftig, gut rasiert, hat dunkelbraune Haare und seine Hautfarbe wirkt ungefähr so, als würde er einem x-beliebigen Bürojob nachgehen. Vor allem aber redet er reichlich, denn es geht um sein Leben: Es ist ein Leben abseits von Strandzirkus und Rundumbespaßung für sonnenhungrige Nordeuropäer, das karge, traditionelle Leben der Lagunenfischer.
Von den 50 Fischern, die hier arbeiten, gehen nur noch 15 hauptberuflich dem alten Handwerk nach. „Viele kombinieren Lagunen- und Meeresfischerei und arbeiten dann abwechselnd hier und draußen auf dem offenen Meer“, erzählt Dionisio. Auch er hat das lange gemacht. Jahrelang ist er um zwei Uhr morgens rausgefahren, Feierabend war erst abends um Acht. Hier in der Lagune ist das ein bisschen anders: „Den Dienstplan machen die Gezeiten“, erklärt er, denn Ebbe und Flut scheuchen die Fische auf, dann werfen die Fischer die Netze aus.
Es ist ein Gebiet in ständiger Veränderung, erklärt Dionisio: Die Lagune versandet, und dadurch gibt es auch immer weniger Fische, weil sich das Wasser nicht so schnell austauscht. Das andere Problem ist: Von der Fischerei alleine kann hier keiner vernünftig leben. Es reicht nicht, um eine Familie zu ernähren. Auch deshalb machen sie jetzt diese Touren: „Wir sehen diesen Beruf auch als einen Beitrag zum Umweltschutz. Deswegen sind wir gerade dabei, eine Kooperative zu gründen, die diese Fahrten durch die Lagune für Touristen veranstaltet.“ Ihre Welt zeigen, und die Schätze, die es darin gibt.
Wie eine Fata Morgana tauchen auf einmal diese Schilfhütten auf der Isola dei Pescatori auf. Das sind sie, die „casoni“, von denen einst Hemingway berichtete und wo der amerikanische Schriftsteller lange bei und mit den Fischern lebte: Einfache Hütten, komplett aus Schilf, die ein wenig aussehen wie längliche Wigwams. Es ist, als würde man plötzlich in eine andere Welt eintauchen, die Welt der Eingeborenen der Lagune.
Früher war das hier ein richtiges kleines Dorf, mit Frauen, Kindern, Alten – und eben mit Männern, die morgens früh rausfuhren, um für Essen zu sorgen. Etwa 15 Casoni stehen noch auf der Insel, einst waren sie die Heimat von etwa 50 Menschen. „Heute lebt niemand mehr fest in den Casoni, wir nutzen sie nur für die Arbeit“, erklärt Dionisio.
Ein Blick ins Innere der Casoni zeigt: So ganz hat die Moderne vor diesem versteckten Fleckchen Niemandsland zwischen Meer und Festland auch nicht Halt gemacht: Der Boden der Schilfhäuser ist mittlerweile zementiert, sonst würde er von unten her aufweichen. Auf etwas mehr als 20 Quadratmetern lebten hier früher um die 15 Menschen, verschiedene Generationen unter einem Dach – und in einem Raum. Im Zentrum steht der Ofen, eine offene Feuerstelle ohne Abzug.
Dass es keinen Kamin gibt, hat durchaus seinen Zweck, erzählen die Fischer: So kann der Rauch durch die Schilfrohre nach oben ziehen und imprägniert zusammen mit dem Fett vom Essen die Schilfrohre. Nur so bleiben sie dauerhaft dicht. Allerdings ist diese Konstruktion auch leicht entzündlich. Wenn der Blitz einschlägt oder jemand eine Zigarettenkippe nicht ordentlich ausmacht, dann brennt schnell das ganze Cason lichterloh. Erst einen Monat zuvor ist eines abgebrannt, berichten die Fischer.
Die bislang größte Katastrophe brach im Jahr 1980 über die Fischerinsel herein: Ein großer Brand zerstörte viele der Schilfhäuser. Heute erinnert daran eine Art offene Kapelle – eine Madonnenstatue in einem kleinen, umzäunten Gärtchen. Die Freiluftkapelle haben die gläubigen Fischer damals errichtet, damit Maria sie künftig vor ähnlichen Unglücksfällen verschont.
Ein Rundgang durch das Fischerdorf führt vorbei an Netzen, die die Fischer zum Trocknen aufgehängt haben, ein Stück weiter flicken sie sie, wie sie das seit Jahrhunderten tun. Links und rechts liegen kleine Gärten, vom Weg getrennt durch krumme Zäune. Neben der Tür zu einem Cason grüßt uns eine farbenfrohe nackte Nixe, die andere Seite neben der Tür ist komplett mit privaten Fotos tapeziert. Manche sind schon vergilbt, aber das ist so Tradition hier. In den Hütten der älteren Fischer zeigen die Fotos auch den Mann, der immer wieder hier auf Entenjagd ging und der dieser Lagunenwelt ein literarisches Denkmal gesetzt hat: Ernest Hemingway.
Auf der anderen Seite des Landestegs führt eine Brücke über Brackwasserkanäle und Schilf. In den Gärten daneben suchen ein paar Hühner nach Körnern. Leben doch noch Menschen fest hier? „Die gehören Gigi“, erklärt Dionisio, „der verbringt fast den ganzen Sommer hier draußen.“ Doch auch Gigi sieht man seinen Beruf nicht an, genausowenig wie man vermuten würde, dass er in einer Schilfhütte lebt: Er ist etwa 1,80 groß, durchtrainiert und muskulös, der Kopf rasiert, dazu trägt er eine dunkle Sonnenbrille und hat ein nagelneues Designerhandy. In einer x-beliebigen italienischen Großstadt würde er weniger auffallen als hier.
Fischer wie Gigi und Dionisio wollen aber nicht nur Journalisten und Tagestouristen ihr Zuhause zeigen, sie haben größere Ideen: Sie möchten gerne die einzigartige Naturlandschaft der benachbarten Insel Valle Vecchia erlebbar machen. „Auf der Insel wollen wir auch ein Museum einrichten, um die Erinnerungen zu bewahren.“ Fischerkurse soll es geben, die Touristen sollen in den Casoni übernachten, unter freiem Himmel frischen Fisch aus der Lagune grillen und Exkursionen in die Kanäle und auf die Laguneninseln machen. Erlebnistourismus mit Öko-Anspruch, nicht weniger und nicht mehr.
Mit kleinen Gruppen haben sie das schon ausprobiert, aber damit es sich wirklich lohnt, müsste man regelmäßig Übernachtungen anbieten können und auch eine Art Restaurant betreiben dürfen. Die Nachfrage wäre da, denn die überwiegend deutschen und österreichischen Touristen in Caorle wären umweltbewusst genug, um sich auch für solche Angebote zu interessieren, da sind sich die Fischer ganz sicher. Doch die Gemeinde spielt nicht mit. Dionisio sucht bei diesem Thema sichtbar nach Worten: „Das ist schwierig. Die hat andere Ziele.“ Das ist diplomatisch, aber eindeutig. Nun hoffen sie auf Unterstützung durch die Region Venetien und die EU.
Nach einer kurzen Fahrt im Boot um die Fischerinsel herum kommen wir an einem bizarren Ort an: Ein Kanal der Lagune mündet ins offene Meer. Links ist die Insel Valle Vecchia. Rechts ist der Strand von Caorle. Links wilde Natur, die nur echte Liebhaber mit dem Boot oder dem Fahrrad erreichen, rechts das quirlige Strandleben mit Sonnenschirmen, Liegestühlen und Handtuch an Handtuch.
Valle Vecchia ist auf Dutzende Kilometer westlich und östlich der einzige Küstenabschnitt, der noch wild und naturbelassen ist: Keine festen Häuser, keine quirligen Strandbäder, keine Heerscharen von Touristen. Wer hierher kommt, sucht Ruhe und Natur. Würde dieses wilde Biotop verschwinden, wäre das nicht nur das Aus für die Fischer, sondern es würde auch ein einzigartiges Ökosystem verschwinden, erklärt Dionisio.
Die Angst der Fischer ist nicht, dass Touristen kommen und dort baden – das sollen sie sogar. Die Angst ist, dass mit ihnen erst die Kioske und Duschen, dann die Hotels, Diskotheken und Menschenmassen kommen. Es stand schon mal ein Kiosk da, erzählt Dionisio: „Den haben wir zerstört.“ Einen militanten Umweltschützer stellt man sich anders vor, nicht diesen bedächtigen Familienvater. „Sogar einen Yachthafen wollen sie hier bauen, eine ganz und gar verrückte Idee ist das!“ Man merkt ihm an, dass ihm noch weitaus kraftvollere Ausdrücke einfallen würden, aber dazu ist er zu gut erzogen.
Wer überprüfen möchte, ob das alles so stimmt, wie ich es hier aufgeschrieben habe, der kann und sollte das gerne tun: Die Ausflüge in die Lagune von Caorle werden organisiert von der Naturschutzkooperative Limosa.
Text: Titus Gast – Fotos: Barbara H. Boesmiller
Disclaimer: Der Text erschien im Herbst 2008 auf dem Italien-Portal von Tiscali Deutschland, ist dort aber nicht mehr abrufbar. Der Termin bei den Lagunenfischern war Teil einer Pressereise, bei der im Juli 2007 Reisejournalisten aus Europa und den USA von der Region Venetien für einige Tage nach Venedig und Jesolo eingeladen wurden. Das sollte erwähnt werden – auch wenn es meine Sichtweise auf die Anliegen der Fischer nicht wirklich beeinflusst hat.